Yvonne Anders
works | cv | contact 


PRALINE #mag


#10 Augmented Spaces. Im Gespräch mit Marie-Eve Levasseur

→ english version


Abb.: Ausstellungsansicht „Le corps-glitch“, Foto Guy L’Heureux

Marie-Eve, du beschäftigst dich als Medienkünstlerin immer wieder mit Grenzüberschreitungen zwischen der virtuellen und realen Welt, sei es in komplexen Rauminstallationen oder in 3D-Animationen. Welche Bedeutung hat „Raum“ in und für deine künstlerische Arbeit? Nicht nur als Ausstellungsraum, sondern auch als Arbeitsraum, Aufenthaltsraum und Lebensraum.


Ein Raum ist oft ein Ort, der mit Absicht entsteht. Ob architektonisch-funktional, geografisch-politisch, theoretisch-kritisch, künstlerisch-immersiv-poetisch – Räume machen immer Sinn für das Wesen, das sie geschaffen hat. Auch Tiere schaffen Räume. Ein Nest, einen Kokon, eine Hülle, einen Schutzraum. Schutz- und Lebensräume sind oft die ersten Räume, die wir im Leben erfahren. Es geht hier um Grundbedürfnisse. Erst wenn diese Bedürfnisse befriedigt sind, können weitere Räume entstehen. Denn nur dann ist im Kopf Platz, um sich einen anderen Ort vorzustellen. Beim Wachsen lernen wir, wie verschiedene Räume konstruiert werden und wie wir sie selbst bauen und mitgestalten können. Es gibt dann Räume zum Leben, Räume zum Arbeiten, Räume zum Vorschlagen etc.

Ich betrachte mein Atelier als einen solchen Raum, in dem vorgeschlagen werden kann. Dort formuliere ich durch materielle und immaterielle Beiträge Vorschläge, die dann in einem Ausstellungsraum präsentiert werden können. Ausstellungsräume können alle möglichen Räume sein. Im Laden nebenan, im Museum, in meinem Wohnzimmer oder auf einem Bildschirm, mit oder ohne Internetanschluss. Es genügt die Intention, etwas zu zeigen, ein Vorschlag als Impuls zum gemeinsamen Denken. Und wenn dieser Raum erst einmal existiert, kann dort nun Zeit verbracht werden. Meiner Meinung nach können Raum und Zeit manchmal miteinander verschmelzen. In diesem Sinne betrachte ich den Raum auch als einen Moment, in dem es Zeit zum Denken und Reflektieren gibt. Sich Fragen zu stellen und gemeinsam über mögliche und unmögliche Antworten zu spekulieren.

Wenn in unserer Gesellschaft von Raum die Rede ist, dann oft und vor allem als Ware: Wer hat Zugang zu Räumen, wie viele Menschen müssen auf wie vielen Quadratmetern leben, wer macht wem wofür Raum streitig? Wie viel Lohnarbeit muss man verrichten, um sich einen Raum „leisten“ zu können? Seit es das Internet gibt, spricht man auch von „digitalen Räumen“. Du hast in deiner künstlerischen Arbeit viel damit experimentiert. Ist das für dich ein Fluchtraum?


Gute Frage. Vielleicht klingt „Escape Room“ für mich zu negativ. Aber vielleicht ist es richtig. Ich sehe digitale Räume als ein Potenzial für viele Dinge: emanzipatorisch, experimentell, kritisch usw. Zumindest grundsätzlich und von der Intention her. Irgendwie sind digitale Räume eine Ergänzung zu unseren physischen Räumen, eine Erweiterung, eine andere Navigationsmöglichkeit. Aber gleichzeitig basieren diese Räume auch auf dem, was wir kennen. Wir reproduzieren gerne das, was uns vertraut ist. Marketing, Ware, Währung, Verbindungen, alles in der Tasche. Sofort. Die Gefahr, dass der Raum zur Ware wird, ist also im Digitalen genauso präsent wie im Physischen. Zumindest so lange, wie wir in einem kapitalistischen System leben. Also wahrscheinlich forever. Aber wie Rosi Braidotti so schön sagt: „we are all in this together“ und weiter „capitalism doesn’t break, it bends“. (Siehe: https://amodern.net/article/amoderns-thinking-zoe)

In meiner künstlerischen Arbeit bewegen sich meine Reflexionen über und um das Digitale an der Grenze zwischen Körper und Bildschirm, Emotionen und Informationen und all den Grauzonen dazwischen. Ich sehe digitale Räume, insbesondere VR (virtuelle Realität), auch als einen potenziellen Hebel bzw. ein Werkzeug, um ökologische Verhältnisse zu beobachten und zu verstehen. Um Empathie durch immersive Erfahrungen zu entwickeln. Das war der Vorschlag in meiner Arbeit „Le corps-glitch (multitudes)“.


Abb.: Aus: Le corps-glitch, Screenshot Marie-Eve Levasseur

Den Raum als Instrument oder Werkzeug zu betrachten, finde ich einen interessanten Punkt – besonders, wenn man das nicht nur auf virtuelle Räume bezieht. Da besteht ein qualitativer Unterschied zum Begriff der Werkstatt. Welche Vorteile hat ein virtueller Ausstellungsraum gegenüber z.B. einer Galerie?


Virtuelle Räume können den Zugang zu bestimmten Inhalten erweitern. Insbesondere Inhalte, die in einer physischen Umgebung nicht realisierbar sind – aufgrund der Kosten, der Zugänglichkeit von Materialien, der physischen Eigenschaften oder der Größe des Raums. Doch solche Räume haben auch ihre Grenzen. Wenn der Akku leer ist, muss das Gerät zunächst aufgeladen werden. Wenn die Grafikkarte zu alt ist, muss sie zuerst aktualisiert oder erneuert werden. Die Idee des Zugangs ist also nicht unbedingt für jeden das gleiche Konzept. Wir kommen also wieder auf die Absicht zurück. „Le corps-glitch (multitudes)“, war meine erste VR-Arbeit. Die experimentelle Seite des Virtuellen war am Anfang für mich wichtiger als der Zugang. Ich wollte das Medium und seine Möglichkeiten verstehen. Für mich war es, als würde ich ein neues Werkzeug entdecken, das sich in einen Raum übersetzt, den ich innerhalb der Grenzen meiner Softwarekenntnisse und innerhalb der Grenzen der Hardware gestalten kann.


Welche Erfahrungen machst du in diesem Raum, wenn du ihn als Werkzeug benutzt, mit dem du etwas erforschen willst?

Das Konzept des Werkzeugs ist hier vielleicht eine Reflexion über die Nützlichkeit von VR, wie bestimmte Affekte durch eine Erfahrung im Virtuellen hervorgerufen werden. Sie fokussiert sich hier auf andere Weise als anderswo. Dies ist tatsächlich eine Forschung, die ich begonnen habe und die ich durch meine künstlerische Praxis fortsetzen möchte. Diese Forschung entfaltet sich auch rund um die Präsentation eines VR-Kunstwerks im digitalen Raum. Die daraus entstehenden Diskussionen und die Erfahrungsberichte der Nutzer:innen bereichern meine Überlegungen weiter.

Was ist die Idee hinter „Le corps-glitch (multitudes)“? Wie hast du die technisch umgesetzt?

Im „Le corps-glitch (multitudes)“ vollziehen sich mehrere Verwandlungen. Es handelt sich um eine Virtual-Reality-Erfahrung, die potenzielle zukünftige und gemischte Körper in den Fokus bringt. Diese Arbeit ist mein erster Versuch, eine Welt dieser Art zu schaffen, sozusagen „world building“. In der virtuellen Realität betrachten wir oft die äußere Welt als entkörperlichte Wesen; die physische Verbindung zum Raum und zum Körper geht irgendwie verloren. In „Le corps-glitch (multitudes)“ erhältst du einen Körper, der nicht anthropomorph ist und sich ständig in Teile der Umgebung um dich herum entwickelt, in einer kontinuierlichen Metamorphose. Du wirst zu einem hybriden Wesen, das sich mit pflanzlichen, tierischen und technologischen Arten verbindet, ohne klare Grenzen in einem beständigen Wandel. Dieser mehrdeutige und flüssige Körper spiegelt sich auf einer Oberfläche wider, die deiner Bewegung folgt und immer auf dich zugeht. Sie zeigt dir, wie du dich mit der Welt um dich herum remixst. Es schlägt somit eine prozessuale Definition dessen vor, was eine Person sein könnte, und betont die Wechselwirkungen unseres Ökosystems.

Die Idee eines Glitch-Körpers stammt aus dem Glitch Feminismus Manifesto von Legacy Russel. Le corps-glitch ist ein Körper, der sich weigert zu gehorchen, sich weigert, die Formen der Norm anzunehmen. Online gibt es einen Verlust an Verkörperung. Aber dieser Verlust geht auch mit den Vorteilen einher, verschiedene potenzielle Identitäten auszuprobieren, mit verschiedenen Oberflächen, Farben und Formen zu experimentieren. Der glitschige Körper ist also ein Körper, der mutiert, der seine Form verändert.

Für die Entwicklung und Produktion des Projekts hatte ich die Möglichkeit, während einer dreimonatigen Residency in einem wunderbaren artist-run center in Sherbrooke, Kanada, zu arbeiten. Der Verein heißt „Sporobole“. Dort habe ich mit Renaud Gervais zusammengearbeitet, der einen PhD in Interaktion hat und programmieren kann, was meine Fähigkeiten übersteigt. Ich bekam mehr als nur die technische Unterstützung, die man erwarten würde. Die Diskussionen rund um meinen Vorschlag halfen, ihn weiterzuentwickeln. Wir haben mit Unity und Blender gearbeitet und Vive-Tracker eingesetzt, um die Bewegungen der Benutzer:innen zu erkennen und ihnen einen Körper zu geben, der ihren Bewegungen folgt. Das Stück braucht also mehr als nur ein Headset, um vollständig erlebt zu werden.


Abb.: Aus: Le corps-glitch, Screenshot Marie-Eve Levasseur

Du hast auch mal eine digitale Ausstellung gemacht. Wahrscheinlich war das während Corona. Du hast einen virtuellen Ausstellungsraum kreiert, den man „betreten“ und in dem man deine anderen Arbeiten anschauen konnte, Videoinstallationen usw. Dazu gab es in diesem Raum einen digitalen Live-Talk mit dir. Man selbst nahm mit einem Avatar teil, mit dem man während des Talks herumlaufen konnte. Hatte diese Aktion einen Titel? Es war das erste Mal, dass ich so etwas in der Art gesehen habe. Es ist so naheliegend, dass ich mich wundere, dass solche Formate nicht viel präsenter sind. Zählst du dieses Projekt – Ist es ein Projekt? – zu deiner künstlerischen Arbeit hinzu?Also ist es selbst ein Kunstwerk und Teil deines Werks? Ich frage, weil du meinst, dass „Le corps-glitch (multitudes)“ deine erste VR-Arbeit sei …


Ach ja, Mozilla Hubs war während der Pandemie super praktisch! Es handelt sich um Web-based VR. Das bedeutet, dass es mit einem VR-Headset erlebt oder einfach auf dem Bildschirm genutzt werden kann. Darüber hinaus ist es ein Multiplayer- und Online-Erlebnis. Mehrere Nutzer:innen können sich dort als Avatare treffen und mithilfe eines Mikrofons eine soziale Situation im virtuellen Raum erleben – und das alles direkt im Browser. Allerdings gibt es einen großen Haken: Alles muss eine geringe Auflösung haben, damit es sichtbar und erlebbar wird. Ich habe diesen Raum für eine Einzelausstellung im Jahr 2021 im Kunstraum rosalux in Berlin zusammengestellt. Die Idee war, dort ein Künstler:innengespräch abhalten zu können. Solche Räume waren in der Pandemie zwar nichts Neues – Second Life war schon fast 20 Jahre alt. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass sie zugänglicher werden.

Ich betrachte den Raum, den ich geschaffen habe, nicht unbedingt als Kunstwerk, sondern eher als Mittel, meine Arbeit auch während einer Pandemie zugänglich zu machen. Vielleicht ist das der Grund, warum „Le corps-glitch“ meine erste VR-Arbeit ist. Interessanterweise existiert der Raum tatsächlich noch, sogar mehr als zwei Jahre später.


Abb.: Aus: Slow, embodied connections (MozillaHubs; art space rosalux, Berlin), Screenshot Marie-Eve Levasseur

Vielen Dank für dieses Gespräch, Marie-Eve.


Der virtuelle Ausstellungsraum ist unter diesem Link zu erreichen:→ https://hubs.mozilla.com/FEir773/devenir-cyborg/

Ein ausführliches Gespräch zu Marie-Eve Levasseurs Arbeiten erschien als Buch unter dem Titel: „Du point de vue d’un.e cyborg“ (Trottoir Noir Skizzenbuch Nr. 6, Dt./Fr.).→ www.trottoirnoir.de

Katalog „devenir cyborg“ (Dt./Fr./Engl.):→ www.trottoirnoir.de

Alle Fotos: © Marie-Eve Levasseur

Eine Gesprächsreihe von Ex_Praline und Verlag Trottoir Noir, 2023
Marcel Raabe, Gespräch und Redaktion; Yvonne Anders, Redaktion