Yvonne Anders
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PRALINE #mag

7 Fata Morgana. Im Gespräch mit Kristin Wenzel

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Abb.: Oh Paradís, Kunstraum Praline, Leipzig 2014

2016 hast du den Holzzaun neben dem Kunstraum Praline in Leipzig mit einer gefakten MDF-Formsteinmauer verblendet. Die Attrappe einer Palme überragte das Gebäude, und im Leuchtkasten beschwor der Titel „Oh, Paradís“ das Paradies auf Katalanisch. Im grell beleuchteten Schaufenster lag ein Hund aus Polyester. Wiederkehrende Motive in deinen Arbeiten scheinen mir Erinnerungen, aber auch utopische Ansätze, Träume und das Scheitern zu sein, das du mit bestimmten Orten und Architekturen verknüpfst. Das ist sicherlich auch mit deiner Biografie begründet. Du bist 1983 in Gotha (DDR) geboren. Wie würdest du diese Verbindungen beschreiben?

Ich wollte zum einen das kleine Gebäude an der Lützner Straße als architektonisches Element integrieren. Wie wurde es genutzt? Was war da mal? Es gibt da verschiedene Erinnerungsebenen. Die von Karl-Heinz Adler und Friedrich Kracht entwickelten seriellen Formsteinelemente, die in der ehemaligen DDR als Architektur- und Kunstelemente im öffentlichen Raum eingesetzt wurden, sind für viele Menschen hier ein vertrauter Anblick. So eine Mauer könnte gut neben der Praline gestanden haben. Zwei Passanten haben bei meiner Präsentation der Installation verwundert ausgesprochen: „Hm? Die Mauer hier, die war doch immer da?!“ Meine Mauerattrappe hat wohl die Erinnerung an diese vertraute Architektur zurückgerufen, die ja nach und nach klammheimlich verschwindet.
Vor dem Hintergrund von DDR-Biografien sind für mich Begriffe und Bilder wie „Paradies“ und Palmen mit Sehnsuchtsorten verknüpft. Ich wollte auch einen reizvollen Kontrast erschaffen, eine Art Fata Morgana, wenn man auf der stark befahrenen Lützner Straße an der Installation vorbeikommt. Hund, Palme und katalanische Sprache waren persönliche Referenzen auf einen längeren Aufenthalt auf Mallorca, wo ich eine Zeit lang gelebt habe. Ich bin auch immer fasziniert von Straßenhunden in anderen Ländern, sie symbolisieren für mich eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Außerdem trifft man solche Hunde an einem Ort immer wieder, sie werden zu einem wichtigen Bestandteil der Gegend.

Die Installation erschuf ein Szenario, welches eine persönliche Erinnerung sein könnte, eine Begebenheit, ein Traum oder eine Zukunftsvision. Hast du mitbekommen, wie die Arbeit auf die vorbeigehenden oder vorbeifahrenden Betrachter:innen gewirkt hat?


Nein, so unmittelbar habe ich die Reaktionen der Betrachter:innen nicht beobachten können. Das ist auch eher selten. Dennoch finde ich es wichtig, dass Kunst und Diskurs im öffentlichen Raum stattfinden sollte und dass Kunst eine mögliche Form von demokratischer Beteiligung ist.
Treibende Kraft in meinen Arbeiten ist der Wille zur Mitgestaltung von öffentlichem Raum. Das ist ein langer Prozess, und es gibt in Bezug auf Zeitgenössische Kunst oft Schranken, je nachdem, wie viel man sich damit bereits beschäftigt hat. Ich sehe daher Kunst im öffentlichen Raum eher als Anstoß für etwas.


Abb.: template #17, Andreea Peterfi, Bukarest 2018

Ortsspezifische Installationen sind dein Thema, du bespielst Vitrinen im öffentlichen Raum mit Installationen und re-interpretierst ungenutzte Architekturen. 2018 hast du mit Vlad Brăteanu, Alice Gancevici und Remus Pușcariu (Rumänien) das Ausstellungsprojekt „Template“ begründet. Ihr habt verschiedene ungenutzte architektonische Strukturen in Bukarest wie Ladenflächen- oder Fassaden, Kioske, Anbauten zu temporären, verkleinerten Ausstellungsorten erklärt und damit wieder aktiviert. Zeitgenössische Künstler:innen waren eingeladen, ortsspezifische Arbeiten zu produzieren. Wolltet ihr einen bestimmten gesellschaftlichen Diskurs zu Stadtraum anregen?


Die Stadt Bukarest hat viel Freiraum, wenn man ihn zu nutzen weiß. Es gibt leerstehende architektonische Strukturen, wie Vorbauten o.ä. aus den 60er-, 70er- und 90er-Jahren. Diese Räume haben wir zu Kunsträumen erklärt, die rund um die Uhr einsehbar waren. Wichtig war uns dabei die Flüchtigkeit. Wir wollten an keinem Ort einen dauerhaften Kunstraum manifestieren. Das Schmerzhafte, dass etwas wieder verschwindet, also die Enttäuschung, das Gefühl des Scheiterns, war immer wichtiger Teil unseres Projekts. Damit wollten wir auch wieder Raum für neue Ideen einer zukünftigen – evt. auch nichtkommerziellen – Nutzung geben. Die Frage ist doch: Was gibt es im öffentlichen Raum überhaupt? Was ist frei verfügbar? Was kann man aktiv mitgestalten?
Die in Bukarest geborene Künstlerin Andreea Peterfi hat beispielsweise eine illegale Struktur auf einem Bürgersteig aus den 90er-Jahren künstlerisch aufgegriffen. Das war einmal eine Wechselstube oder ein Kiosk, das ist nicht so klar. Aber interessant ist hier, dass der Anbau illegal auf den Bürgersteig gebaut wurde, was in Bukarest oft zu finden ist. Die Künstlerin hat Elemente in der unmittelbaren Umgebung fotografiert wie Fehler oder Aneignungen, z.B. Haufen von Bauresten auf Parkplätzen, um sich Parklücken zu sichern. Diese Elemente holte sie auf Stoff gedruckt in die architektonische Struktur und spiegelte so den öffentlichen Raum mit seinen spannenden Guerillataktiken.


Abb.: template #17, Andreea Peterfi, Installationsdetail, Bukarest 2018

Und diese illegalen Strategien können ja auch durchaus eine Anregung zur Aneignung öffentlichen Raums sein. Welches Aktivierungspotenzial hat deiner Erfahrung nach das Aufgreifen vergangener Strukturen und Erinnerungen sowie ihre Verbindung mit Zukunftsperspektiven bei Betrachter:innen vor Ort? Weißt du, ob es auch Debatten und Überlegungen zu Wertschätzung, Neunutzung, Erhalt, Weiternutzung o.ä. angeregt hat?

So ein jeweils temporär genutzter Raum als Ausstellungsfläche hat schon das Gefühl verändert, dort vorbeizulaufen. Viele sind stehen geblieben, haben ihre alltäglichen Wege unterbrochen, um Kunst anzuschauen. Sie haben uns gefragt, was wir hier machen, und wir sind ins Gespräch über Zeitgenössische Kunst gekommen. Die Nachbarn waren oft traurig, wenn wir wieder verschwunden waren. Ich denke, für sie wurden vielleicht vergessene Dinge wieder freigelegt und ein Nachdenken über eine zukünftige Nutzung auch jenseits kommerzieller Überlegungen angestoßen.


Abb.: „1000 Melodien“, Installationsansicht, Friedrichroda 2022

Scheitern und der Umgang damit ist auch Gegenstand deiner Arbeit „Tausend Melodien“ von 2022 in Friedrichroda. Auf die Installation stößt man an einer verlassener Rodel- und Bobbahn im Thüringer Wald. An einem Schuppen befindet sich die Leuchtschrift „Tausend Melodien“. Aus Lautsprechern sind von einer Sprecherin Sätze zu vernehmen, die wie eine Überschriftensammlung von Nachrichten klingen. Nach und nach wird klar, dass es sich um DDR-Radio-Nachrichten zur 10. Rodel-Weltmeisterschaft in Friedrichroda handelt, mit der sich vor Beginn diverse Hoffnungen verbanden – auf Gäste, Aufmerksamkeit, Tourismus? Laut Audiospur fällt die WM schließlich aufgrund der Wetterlage aus ...


Ich habe beim Wandern diese Bobbahn entdeckt, die oberen 500 Meter liegen brach. Der untere Teil wurde saniert und wird heute als Sommer-Rodelbahn zu Trainingszwecken genutzt. 1966 sollte dort die 10. Rennschlitten-Weltmeisterschaft stattfinden. Der Winter war aber zu warm, das Eis ist geschmolzen. Die WM wurde erst verschoben und musste schließlich abgesagt werden. Viele Sportler und Sportlerinnen waren schon angereist. Ich habe aus Zeitungsartikeln Überschriften in eine dramaturgische Reihenfolge gebracht, um Vorfreude, Bangen, Absage und Schluss eines Ereignisses zu erzählen. Eins der Streckenhäuschen wollte ich wiedererobern. Ich habe es renoviert, gestrichen, die kaputten Fensterläden ausgetauscht und Strom dorthin gelegt. Man kommt durch Zufall beim Wandern dort vorbei und hört vom Wanderweg aus die Audioinstallation. Die Arbeit ist im Grunde sich selbst überlassen.
Die Leuchtschrift „Tausend Melodien“ am Häuschen verweist auf die Erzählungen von Zeitzeug:innen vor Ort, dass wohl in dem Jahr der geplanten WM plötzlich viele Bewohner des Ortes Leuchtschriften an ihren Häusern und Geschäften installierten. Es hätte ausgesehen „wie in Las Vegas“. Der Titel bezieht sich auf eine Sendung von Radio DDR, bei der man sich seine Lieblingsmelodie wünschen konnte. Die gewünschten Lieder sollten dann anlässlich der WM gespielt werden, die schließlich eben ausfiel.

Für mich erzählt die Arbeit eine Geschichte über die Hoffnung, dass ein besonderes sinnstiftendes Ereignis eine Identifikation mit dem Ort generieren könnte, Stolz und überregionale Aufmerksamkeit: Alleinstellungsmerkmal Rodelsport. Das Scheitern am Ende war aus Sicht der Radioberichterstattung kein eigenes Versagen, sondern durch äußere Umstände verursacht – eine interessante Perspektive auf das Scheitern des sozialistischen Staates?


Über den Umgang mit dem Scheitern und der Enttäuschung habe ich in den Zeitungsartikeln aus dieser Zeit kaum etwas gefunden. Ich halte es jedoch für sehr wichtig, die Menschen in ihrer Enttäuschung abzuholen. Man hätte ein Fest machen können, mit den in einem Artikel erwähnten 100.000 Bratwürsten. Scheitern als Thema kommt oft überhaupt nicht gut an. Ich bin in der Nähe des Ortes aufgewachsen und kann aus eigener biografischer Erfahrung sagen, dass sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebene das Reden über Scheitern schwierig ist und nicht selten als Stigmatisierung und Abwertung der eigenen Biografie empfunden wird.
Es gab daher auch ganz unterschiedliche Reaktionen auf meine Arbeit, von begeisterten Mails zufällig vorbeikommender Wanderer oder interessierten Kommentaren der Teilnehmer einer Eröffnungs-Bustour bis hin zu ablehnenden Haltungen und dem Unbehagen, an ein gescheitertes Vorhaben erinnert zu werden.


Abb.: „1000 Melodien“, brachliegender Teil der Bobbahn, Friedrichroda 2022

Deine Arbeit zeigt für mich auch Potenziale auf, die eine heute als abgehängt abgestempelte Region hatte und vielleicht auch wieder haben kann. Sie erinnert meiner Meinung nach die Ortskundigen an bzw. stößt Nicht-Ortskundige vielleicht auf eine besondere Geschichte einer Region, die aktuell von Wegzug und Schrumpfung geprägt ist. Ich finde , das schenkt dem Ort und den Biografien Beachtung und damit Wertschätzung.
Vielen Dank für das Gespräch!


Alle Fotos: © Kristin Wenzel

Eine Gesprächsreihe von Ex_Praline und Verlag Trottoir Noir, 2023
Yvonne Anders, Gespräch und Redaktion; Marcel Raabe, Redaktion