Yvonne Anders
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4. Alles an seinem Platz – im Gespräch mit Emrah Gökdemir

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Abb.: „Alles an seinem Platz – Pflanzung von Artemisia Annua an der Mauer der Festung Elbasan“, Emrah Gökdemir / 17.10.2021 / Elbasan (Albanien)

„Alles an seinem Platz“ war der Titel einer Performance von Emrah Gökdemir, bei der er Artemisia Annua auf die Mauer der Festung von Elbasan pflanzte. Die Performance fand im Rahmen der Abschlussausstellung in Elbasan am 17. Oktober 2021 statt.

Emrah, Du warst Teil eines performativen Reiseprojekts auf der „Via Egnatia“ von Juli bis Oktober 2021. Wohin hat Dich diese Route geführt, wer hat das Projekt organisiert?


Die Via Egnatia ist eine antike römische Straße, die heute durch die Gebiete der Staaten Albanien, Nordmazedonien, Griechenland, Bulgarien und der Türkei verläuft. Ich war einer der Workshopleiter zusammen mit Pawel Korbus und Iva Korbar, die zusammen mit Mitost e.V., Culture Routes Society Turkey, Tirana Ekspres, Paths of Greece und Art Society Open Studio Poland ein einjähriges Projekt entwickelt und durchgeführt haben. In dieser Zeit habe ich einen künstlerischen Forschungsaufenthalt in der HALLE 14 / Spinnerei absolviert. Auf einer 16-tägigen gemeinsamen Exkursion durch die Türkei, Griechenland und Albanien im Juli 2021 recherchierten wir Orte für Workshops und performative Veranstaltungen, die im September und Oktober 2021 stattfanden. Während einiger der Recherchereisen verbrachten wir Zeit mit den Bewohner:innen, um uns über ihr Leben auszutauschen und über künstlerische Methoden zur Aufarbeitung dieser Geschichten zu sprechen. Am Ende organisierten wir viertägige Workshops und einen Tag für performative Präsentationen an jedem der ausgewählten Orte in Demre (Türkei), Elbasan (Albanien) und Edessa (Griechenland).

Was war die Intention?


Auf den Exkursionen, in den Workshops und mit den performativen Aktionen wollten wir uns mit dem kulturhistorischen Erbe und seiner Bedeutung für die Gegenwart der jeweiligen Orte auseinandersetzen. Durch performative Elemente und Methoden versuchten wir, ungewöhnliche Wege der Wahrnehmung und des Verständnisses unserer Umgebung zu eröffnen. Basierend auf lokalem Wissen und Praktiken wie Musik, Tänzen, Spielen, Ritualen und Kindheitserinnerungen wurden performative Aktionen entwickelt.

Die Gruppenperformance „‚Bringing Saint George‘ Elbasan“ ist ein gutes Beispiel, um den Prozess und die Verbindung zwischen der Feldforschung, den Workshops und den performativen Aktionen zu erklären.


Während der Recherche in Elbasan entdeckten wir eine kleine Kirche im Keller eines Hauses. Eine kleine Tür führte dorthin, und ein Mann, der zunächst in normaler Kleidung erschien, zog plötzlich seine Priesterkleidung an und führte uns an diesen versteckten heiligen Ort. Er erklärte uns, dass es sich um eine fast 2000 Jahre alte Kirche handele, und der Raum war voller Ikonen. Mir fiel auf, dass es hier keine St.-Georgs-Ikone gab, und ich versprach, dem Vater (@nikollaxhufka) bei seinem nächsten Besuch eine mitzubringen. Später auf unserer Reise fand ich diese Ikone in Thessaloniki, wo auch die Egnatia-Straße vorbeiführt, auf einem Markt. Drei Monate später löste ich also zusammen mit der Künstler:innengruppe und einem Publikum mein Versprechen ein und übergab die Ikone während einer Aufführung an den Vater. Es war ein überraschender Akt, im Rahmen der Aufführung traf ich ihn vor dem Haus und fragte ihn: „Weißt du noch, was ich dir versprochen habe …?“


„Den Heiligen Georg bringen“, Gruppenaktion, 17.10.2021, Elbasan


In den Performance-Workshops und performativen Aktionen wolltet Ihr herausarbeiten, was die Orte in uns auslösen, woran sie uns erinnern, worauf sie verweisen.


Ja, in der Altstadt von Elbasan zum Beispiel hatten wir den Eindruck, dass alle Dinge hinter verschlossenen Türen stattfinden und niemand draußen ist. In der Duo-Performance „The Gossip“ von Samanda Sulaj (Albanien) & Melisa Kurtuluş (Türkei) saßen die Performerinnen einfach vor einem Haus an der Straße, tranken Kaffee, aßen Sonnenblumenkerne und tratschten über Passant*innen. Das Burgviertel von Elbasan erinnerte Melisa an ihre Heimatstadt Antakya, allerdings ohne Menschen auf den Straßen. Sie fragte sich, wo sich eigentlich das tägliche Leben abspielt. Samanda, eine albanische Teilnehmerin, beschrieb den Hintergrund der Performance mit einem sehr interessanten allgemeinen Verhalten der Einheimischen in Elbasan: Wenn auf der Straße etwas passiert, bleiben die Leute stehen, essen Sonnenblumenkerne und beobachten die Situation.


„Der Klatsch“ von Samanda Sulaj & Melisa Kurtuluş, 17.10.2021, Elbasan

Die Künstler:innen untersuchten auch historisch-politische Dimensionen noch bestehender Architekturen und deren Bedeutung für die Gegenwart.

Während der Performance „Dismissed captivity“ im antiken Zentrum von Edessa beschäftigte sich der Teilnehmer Hüseyin Eryurt mit der sogenannten „Säule der Befreiung“, an der die Sklavenhalter traditionell die Namen ihrer ehemaligen Sklaven aufschrieben, nachdem diese ihre Freiheit erlangt hatten. Vor einem trockenen Brunnen in einer nahegelegenen leerstehenden Fabrik beschloss der Künstler, laut aus dem Buch des berühmten Geschichtenerzählers namens Evliya Çelebi vorzulesen, der die Namen von 16 arabischen Sklaven aufgeschrieben hat, um ihnen schließlich die Freiheit zu schenken. Er verknüpfte das historische Zeugnis einer Sklavenbefreiungsaktion mit der aktuellen Wasserpolitik der Regierung. Edessa wird als „Stadt des Wassers“ bezeichnet, aber in Wirklichkeit ist das Wasser unter staatlicher Kontrolle, seit die Regierung eine Staumauer zur Stromerzeugung gebaut hat und die Wasserfälle nur von Zeit zu Zeit öffnet.


„Dismissed captivity“, Hüseyin Eryurt, 24.10.2021, Edessa (Griechenland)
Was war das Zielpublikum? Wer konnte teilnehmen? Wie hast Du die Leute eingeladen?

Unsere Aufrufe zur aktiven Teilnahme an den Programmen richteten sich zum einen an Künstler:innen, aber auch an lokale Akteur:innen, Anwohnende, Reiseführer:innen, Lehrende … Die Einbindung der lokalen Bevölkerung war ein Ziel, aber wir haben auch berücksichtigt, dass die Anwohner:innen ihr eigenes Leben führen, mit all der Verantwortung. Sie haben Tiere zu versorgen und Land zu bewirtschaften. Deshalb haben wir den Präsentationstag mit einbezogen, denn nicht jeder hat vier Tage Zeit, um an einem Workshop teilzunehmen.

Wie waren die Reaktionen auf die ungewöhnlichen Formate?


Viele Menschen vor Ort hatten so etwas wie eine Performance noch nie gesehen. Ihre Erwartungen an die „Aufführungen“ wurden oft erst einmal irritiert. Aber am Ende hat es für sie dann doch Sinn gemacht. In Demre habe ich die Performance „Before you“ gemacht. In dieser Performance stand ich auf einer Leiter mit einer Waage und benutzte Kräuter, die ich in der Umgebung des Museums der lykischen Zivilisationen gesammelt hatte. Ich zeigte auf bestimmte Personen und sagte: Ich war nicht hier – da war Thymian – du warst nicht hier – da waren Feigen – ihr wart alle nicht hier, aber da war Johannisbrot, da war Pelargonium. Dann spielte ich mit dem Gleichgewicht, indem ich diese Pflanze auf eine Seite der Waage legte, die ich in meiner linken Hand halte. Ich variierte die Rede mit den Verben ‚hören‘, ‚sehen‘ und ‚wissen‘, verglich mich selbst und das Publikum mit Pflanzen und fuhr fort, Pflanzen auf verschiedene Balken der Waage zu legen. Mit dieser Performance, in der ich auf die Tugend der Pflanzen als Zeugen der Jahrhunderte hinwies, wollte ich dem Publikum ein Bewusstsein für die verschiedenen Arten der Wahrnehmung eines Ortes vermitteln, vor allem für solche historischen und kulturellen Orte. Ein kleines Mädchen kam danach zu mir und sagte: „Dein Vortrag war sehr gut, ich habe noch nie die Namen dieser Pflanzen gehört“. Andere Leute machten sich über mich lustig, indem sie meine Darbietung hinter meinem Rücken imitierten und riefen: „Ich war nicht dabei … du warst …“ Aber das war nur zum Spaß und auf eine freundliche Art und Weise. Einige Besucher:innen bedankten sich bei mir, weil die Darbietung so einfach und gleichzeitig so bedeutungsvoll war. Eine Professorin für Kulturelles und historisches Erbe von der Universität in Elbasan war sehr interessiert an der Methodik der Wahrnehmung der Umgebung. Zusammen mit einem Kollegen produzierte sie sogar eine Filmdokumentation des Projekts, um es ihren Studierenden zu zeigen.

Das Gemeinschaftsprojekt basierte hauptsächlich auf dem Austausch – in der Gruppe, mit den Anwohnenden und mit dem Publikum. Habt Ihr die Aufführungen auch in einem gemeinschaftlichen Gruppenprozess entwickelt und diskutiert?


Die Workshops hatten an jedem Ort ein anderes Design. Aber generell haben wir die Körperwahrnehmung geschult, versucht, ein Gruppengefühl aufzubauen, mit dem Raum und der Wahrnehmung umzugehen, mit dem Ziel, ein performatives Ereignis zu konzipieren. Wir haben einige Gruppenaktionen entwickelt, der Gruppenprozess spielte eine wichtige Rolle, aber wir haben auch Soloperformances gefördert, um eigene Geschichten und Erfahrungen hervorzuheben.

Wie war das Verhältnis zwischen Darstellenden und Zuschauenden? Inwieweit waren sie beteiligt oder konnten sie sich beteiligen? Habt Ihr interagiert?


Pawel Korbus machte eine öffentliche Performance an den Edessa-Wasserfällen. Er entdeckte an den Steinen einen „Hassrede“-tag gegen LGBT, Anarchisten und Kommunisten und beschloss, durch ein Megaphon zu schreien: „Schaut, was hier geschrieben steht! Ich akzeptiere das nicht.“ Er forderte beliebige Leute auf, sich auf den Boden zu legen, um die Hassrede mit ihren Körpern zu verdecken. Etwa 20 Personen nahmen daran teil, darunter Einheimische und zufällige Personen …

Kannst Du Deine Eindrücke von der Wirkung auf die Stimmung der Menschen in diesem kollektiven Moment beschreiben?


Diese Performance fand am Wasserfall statt, wo sich die gesamte Touristenmenge aufhielt. Als Pawel das Megaphon in die Hand nahm und zu sprechen begann, zog er alle Aufmerksamkeit auf uns, und sobald wir diesen Ort erreichten, machten viele Leute diese Aktion direkt mit ihm. Ich denke, das war ein ganz besonderer Moment. Wir lagen noch eine Weile auf dem Boden, ich erinnere mich daran, wie ich die Augen schloss: einerseits das kraftvolle Rauschen des Wasserfalls und andererseits unsere eigenen Stimmen, die wir mit Schwung hinzufügten. Ich glaube, dass dies einer jener magischen Momente war, in denen sich die intensive Kraft der Kunst offenbarte.


“In this place you can split on me”, Pawel Korbus, 24.10.2021, Edessa Wasserfälle

→ www.instagram.com/viaeurasia

Eine Gesprächsreihe von Ex_Praline und Verlag Trottoir Noir, 2021
Yvonne Anders, Gespräch und Redaktion; Marcel Raabe, Redaktion